Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Rundfunkurteilen immer wieder zugunsten des öffentlich-rechtliche Rundfunks entschieden. Da das Gericht kein Gesetzgeber ist, sondern eigentlich nur Gesetze auf Konformität mit dem Grundgesetz überprüfen darf, ist interessant zu wissen, was im Grundgesetz zum Thema Rundfunk zu finden ist. Überraschenderweise gibt es im gesamten Grundgesetz nur eine einzige Stelle, die Rundfunk zum Thema hat, wenn man von Artikel 23 Abs. 6 GG absieht, der die Zuständigkeit regelt.
„Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.” (aus Artikel 5 GG)
Das Grundgesetz verlangt also vom Gesetzgeber und den Rundfunkveranstaltern, dem Rundfunk alle Freiheiten zu geben, die notwendig sind, damit die Berichterstattung gründlich, umfassend, in die Tiefe gehend, objektiv und unabhängig ist. So objektiv und unabhängig, dass es nicht möglich ist, dass Ministerpräsidenten Einfluss nehmen können auf die Gestaltung des redaktionellen Apparates und dass politische Freundeskreise vor die Türen der Funkhäuser gesetzt werden. Oder interpretiere ich damit zuviel in die „Freiheit der Berichterstattung” hinein?
In der Entscheidung BVerfGE 12, 205 von 1961 sah es das BVerfG in Absatz 182 auch so:
„Art. 5 GG verlangt jedenfalls, daß dieses moderne Instrument der Meinungsbildung weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert wird.
Die Veranstalter von Rundfunkdarbietungen müssen also so organisiert werden, daß alle in Betracht kommenden Kräfte in ihren Organen Einfluß haben und im Gesamtprogramm zu Wort kommen können, und daß für den Inhalt des Gesamtprogramms Leitgrundsätze verbindlich sind, die ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten.
Das läßt sich nur sicherstellen, wenn diese organisatorischen und sachlichen Grundsätze durch Gesetz allgemein verbindlich gemacht werden. Art. 5 GG fordert deshalb den Erlaß solcher Gesetze.”
Der Rundfunk hatte 1961 nach Ansicht des BVerfG gegenüber der Presse eine Sondersituation: Wenige Sendefrequenzen, hohe Kosten.
Deshalb hat das BVerfG aber nicht die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten als zwingend angesehen, wie aus Absatz 181 hervorgeht:
„Art. 5 GG fordert zur Sicherung der Freiheit auf dem Gebiet des Rundfunks allerdings nicht die in den Landesrundfunkgesetzen gefundene und für die Rundfunkanstalten des Bundesrechts übernommene Form.
Insbesondere ist es vom der Bundesverfassung nicht gefordert, daß Veranstalter von Rundfunksendungen nur Anstalten des öffentlichen Rechts sein können.
Auch eine rechtsfähige Gesellschaft des privaten Rechts könnte Träger von Veranstaltungen dieser Art sein, wenn sie nach ihrer Organisationsform hinreichende Gewähr bietet, daß in ihr in ähnlicher Weise wie in der öffentlich-rechtlichen Anstalt alle gesellschaftlich relevanten Kräfte zu Wort kommen, und die Freiheit der Berichterstattung unangetastet bleibt.
Gegen eine solche Gesellschaft besteht von Verfassung wegen kein Bedenken, wenn beispielsweise durch Gesetz eine die spezifischen Zwecke des Rundfunks, insbesondere die Erhaltung seiner institutionellen Freiheit sichernde besondere Gesellschaftsform zur Verfügung gestellt und jede, den angegebenen Erfordernissen genügende Gesellschaft, die Rundfunksendungen veranstaltet, einer Staatsaufsicht ähnlich etwa der Banken- oder Versicherungsaufsicht unterworfen wird.”
Erst in den Entscheidungen ab 1986 tauchten auf einmal Begriffe wie Grundversorgung (BVerfGE 73, 118) oder Bestands- und Entwicklungsgarantie (BVerfGE 83, 238) auf, die auf die öffentlich-rechtlichen Anstalten bezogen sind.
Hier hat sich scheinbar die Rechtssprechung des BVerfG verselbstständigt.
Dies wurde auch in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums kritisiert, nachzulesen auf Seite 18:
„Zur Problematik dieser Rechtsprechung gehört es, dass die Basis der rechtsdogmatischen Folgerungen ausschließlich mit Eigenzitaten belegt wird und weder ökonomische, sozialwissenschaftliche oder sonstige Fachliteratur einbezieht, der Begründungsduktus mithin zunehmend selbstreferentiell erscheint.”
Es ist gerade bei Rundfunkfragen eine gewisse Mode geworden, nicht nur auf das eigentliche Rechtsvorschrift, sondern auch auf Begründungen zu verweisen. Das gleiche Verfahren wenden wir nun einmal auf das Grundgesetz an, vielleicht finden sich in den Aufzeichnungen Anhaltspunkte für die Interpretation des BVerfG.
Wie man den Protokollen des Parlamentarischen Rates, der das Grundgesetz entwickelt hat, entnehmen kann, wurde in der Diskussion zu Artikel 5 gestritten, ob es eine Notwendigkeit von staatlich betriebenen Rundfunksendeanstalten gibt. Dem Protokoll der 32. Sitzung des Parlamentarischen Rates vom 11.01.1949 lassen sich ein paar Zitate entnehmen, die zeigen, dass damals in der Rundfunkfrage viel weiter in die Zukunft gedacht wurde, als es die Politik heute vermag:
„Ich halte es für falsch, die zukünftige Form des Rundfunks ein für allemal in der Verfassung festzulegen.” (Dr. Süsterhenn).
„Die technische Entwicklung kann es vielleicht bald ermöglichen, daß beinahe jeder seine eigene Wellenlänge hat.” (Dr. Eberhard).
Es hat zwar fünfzig Jahre gedauert, aber das Internet stellt heute jedem, der das will, seine „eigene Wellenlänge” zur Verfügung. Für die heutige Politik ist Internet immer noch „Neuland”, für die damaligen Politiker eigentlich gar nicht vorstellbar. Das macht den damaligen Weitblick um so bemerkenswerter.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben die Grundrechte des Einzelnen in das Zentrum des Staatsauftrags gestellt, als diese Grundrechte in Artikel 1-19 niedergelegt wurden. Die Würde des Menschen unterliegt sogar der Ewigkeitsklausel. Rundfunk ist für die Menschen kein lebensnotwendiges öffentliches Gut wie etwa eine eine funktionierende Wasserversorgung oder Müllabfuhr, bei deren finanzieller Beteiligung des Einzelnen es objektiv gute Gründe gibt. Diese sind aber auch nicht mit politischen Überzeugungen verbunden. Rundfunk gehört vielmehr zur Kategorie der meritorischen Güter und muss den Anforderungen genügen, die aus der verfassungsrechtlich unwiderruflich verankerten (Entscheidungs-)Autonomie jedes Einzelnen hervorgehen.
Richter, insbesondere Verfassungsrichter, stehen unter dem Regime des gesetzlichen Wortlautes oder, wie es das Bundesverwaltungsgericht formulierte, als es die "PC-Gebühr" rechtfertigte:
„Die Befugnis zur Korrektur des Wortlauts einer Vorschrift steht den Gerichten indes nur begrenzt zu (Urteil vom 27. Juni 1995 - BVerwG 9 C 8.95 - DVBl 1995, 1308 f.).
Voraussetzung ist, dass eine Auslegung ausscheidet, weil der zu entscheidende Fall eindeutig vom Wortsinn der Rechtsnorm erfasst wird, und dass der Normzweck dem Auslegungsergebnis entgegensteht.” (BVerwG 6 C 12.09, Absatz 32)
Wie kann man nun in die „Freiheit der Bericherstattung durch Rundfunk” das Vollversorgungspaket der öffentlich-rechtlichen Anstalten hineininterpretieren, ohne sich ganz weit vom Wortlaut zu entfernen?
Stünde es dem Rechtsstaat nicht gut an, wenn Richter die Erkenntnis ihres Berufsstandes, dass eben nicht alles Auslegungssache, sondern manchmal Dinge ganz einfach eindeutig sind, in ihre Entscheidungen einfließen lassen würden? Dann müssten nicht Rundfunk allgemein einen imaginären Vorteil für alle darstellen, obwohl das Grundgesetz lediglich die Freiheit der Berichterstattung abdeckt.
Wer es selbst nachlesen möchte:
Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Akten und Protokolle Band 5/II Ausschuss für Grundsatzfragen, (c) 1993 Harald Boldt Verlag, Boppard am Rhein, ISBN 3-7646-1925-2, S. 654, S. 931f
Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Akten und Protokolle, Band 14, Hauptausschuss, (c) 2009 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München, ISBN 3-486-56564-5, S. 1119
Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, Mohr Siebeck, ISBN 978-3-16-150432-7, S. 79-92